VON BABETTE
KAISERKERN
Viele Wege führen zur "Matthäus-Passion"
von Johann Sebastian Bach. Ganz unabhängig von Herkunft,
Status, Bildung und Religiösität kann sich wohl
kaum jemand ihrer musikalischen Wirkung und den damit
verbundenen geistig-geistlichen Inhalten entziehen. Selbst
Friedrich Nietzsche bekannte: "In dieser Woche habe
ich dreimal die Matthäuspassion des göttlichen
Bach gehört, jedesmal mit dem Gefühl der unermesslichen
Verwunderung.Wer das Christentum völlig verlernt
hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium".
In diesem Jahr kamen in Potsdam sogar zwei Einstudierungen
von Bachs "Matthäus-Passion" zu Gehör.
Auf die vorausgegangenen Spiegelfechtereien zwischen kirchlichen
und weltlichen Musikdirektoren hätte verzichtet weden
können, wenngleich sie sicher viel Aufmerksamkeit
eintrugen. Schließlich hatte schon Felix Mendelssohn-Bartholdy
mit seiner Wiederaufführung in der Berliner Singakademie
dazu beigetragen, die "Matthäus-Passion"
aus dem sakralen Raum zu lösen und in einen freiheitlich-autonomen,
künstlerisch definierten Bereich zu führen.
So hatte auch die Aufführung im fast ausverkauften
Nikolaisaal ihre Berechtigung und wurde ebenso berechtigt
gefeiert. Unter der Leitung Kristian Commichau mit den
vocal-concertisten entstand eine subtile, transparente,
intime Interpretation, die weniger Wert auf Wucht und
Strenge legte, sondern gelegentlich kammermusikalisch
leicht wirkte. Die bei manchen Einspielungen vorhandene
große Orgel fehlte hier, und die Aufteilung in zwei
gleichwertig besetzte Orchester, die nur stellenweise
zusammen spielen kam dieser Wirkung entgegen. Kristian
Commichau dirigierte leichthändig und präzise.
Berückende Sogkraft entfalteten Chor und Orchester
vom Anfangschor an, der mit wiegendem Rhythmus und klagender
Moll-Melodik das Publikum ins irdisch-überirdische
Zwischenreich der biblischen Geschichte versetzte.
Kunstvolles Jonglieren
Die Stimmen der Solo-Instrumente
erklangen neben den Gesangssolisten ebenbürtig asudrucksvoll
und näherten sich damit dem musikalisch autonomen
Klangideal des 19. Jahrhunderts durchaus an.
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Flötistin Bettina Lange bezauberte in der Arie "Aus
Liebe will mein Heiland sterben", die Oboisten Jan
Böttcher und Emma Davislim jonglierten kunstvoll
auf ihren verschiedenen Instrumenten und die Konzertmeister
Florian Donderer und Peter Rainer setzten eindrucksvolle
Akzente bei ihren Soli. Einen besonderen Hörgenuss
und Blickfang zugleich bot Gambistin Hille Perl mit ihrem
Elfenbeinverzierten Instrument. Die aus einer alten bremischen
Musikerfamilie stammende Diva erzeugte auf der Kniegeige
ätherisch-herbe, klagende Klangfarben,die speziell
die Arie "Komm, süßes Kreuz" mit
entrücktem Ernst umflorten.
Der große Chor der vocal-concertisten als Doppelchor
aufgestellt überzeugte in jedem Moment, mit dramatischer
Gewalt in den Turbae-Sequenzen, differenziert, klangrein
und mit transparenten Tonfacetten in den Chorälen,
die zu Bachs Zeiten noch von der Gemeinde mitgesungen
wurden. Als durchweg gut gewählt erwiesen sich die
Gesangssolisten. War Siri Karoline Thornhills Sopran im
ersten Teil noch etwas klein, so steigerte sie sich zu
mädchenhaft-lyrischem Ausdruck in "Aus Liebe
will mein Heiland sterben". Einen trefflichen Kontrast
bildete Altistin Ulrike Bartsch, die Ihre großen
Arien warm, lebendig und mit empfindsamer Schlichtheit
darbot, wie sie nur als Ergebnis ausgefeilter Technik
und hohen Kunstsinns entstehen kann. Ohne Zittern und
Zagen hielt Evangelist Andreas Weller seinen anspruchsvollen
Part bis zum Ende durch und gab einen erfolgreichen Einstand
in Potsdam. Raimund Nolte überzeugte als Jesus, während
Corby Welch, Tenor, unausgereift und in den höhen
leicht gepresst sang. Kai Stiedermanns weicher Bassbariton
(Judas, Petrus, Simon, Joseph) wirkte wirkte geöegentlich
etwas starr, aber insgesamt angenehm.
Die abschließende Szene führe Solisten, Chor
und Orchester noch einmal zu einer Gemeinschaft der trauernden
und zugleich zukunfsgewiss "vergnügten"
Gläubigen zusammen. Das ergriffene Publikum applaudierte
einer höchst gelungenen Aufführung.
Potsdamer Neueste Nachrichten
22. April 2003
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